Gottesdienst zur Jahrestagung der Ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl

 

 

Predigt zur Jahrestagung am am 22. November 2024 in der Stiftskirche des Stephansstifts in Hannover

Willkommen in der Stiftskirche des Stephansstiftes hier in Hannover. Mein Name ist Hans-Peter Daub. Ich bin theologischer Vorstand der Dachstiftung Diakonie und Mitglied im
ökumenischen Netzwerk Asyl in der Kirche in Bremen und Niedersachsen.

Die Kirche hier ist ein zentraler Ort der diakonischen Arbeit, die im Stephansstift seit 155 Jahren geschieht, - mit Lichtseiten und auch viel Schatten. Beides findet sich auch in der
Kirche hier, die 1895 gebaut wurde.

Schöne Gesten, kraftvolle Ansagen. Bei Tag könnten wirdie Fenster hier vorn sehen: Dass der erste Diakon der Christenheit Stephanus für seine Überzeugungen mit dem Leben eingetreten ist und am Ende den Himmel offen sieht. Hier vorn die vielen Kinder, die bei Jesus Platz finden, und die Kirchenfürsten wie Luther sind eine Art Platzanweiser. Aber dann wieder der Christus auf dem Mittelfenster, mit einem strengen, unbewegten Blick. Und ich stelle mir vor, wie „die Zöglinge“, verwaiste, arme, vielfältig marginalisierte Jungen in den Familiengruppen des Stifts hier ihrer Sonntagspflicht nachkamen und möglicherweise einen strengen Pfarrer und einen finster drein schauenden Christus erleben. Licht und Schatten. Aber in einem überwiegt das Licht doch: Die Kirche war und ist ein Zufluchtsort für Menschen auf der Flucht. Nach dem Krieg war hier das erste Flüchtlingsbüro für Niedersachsen. Hier auf einem weitgehend unzerstörten diakonischen Gelände wurden Flüchtlinge erst gesammelt, um dann dezentral untergebracht zu werden.

Und heute ist die Stiftsgemeinde als Kirchenasyl gewährende Kirchengemeinde Zufluchtsort für viele Dutzend Menschen aus Afghanistan, dem Irak, aus Syrien, aus der Türkei, dem
Sudan, Cote d’Ivoire und manche mehr, die im Schutz dieser Gemeinde in der Regel die Dublinfrist erdulden, um dann hier eine hoffentlich sichere Zukunft zu finden.

Nun möchte ich noch einige Sätze zu dem Inhalt dieses Gottesdienstes sagen. Ich fühle mich geehrt, aber noch viel mehr herausgefordert, diesen Gottesdienst mit euch zu feiern.
Was haben wir biblisch nicht schon über Kirchenasyl nachgedacht in weit über 40 Jahren moderner Kirchenasylbewegung? Was könnte ich sagen, was andere nicht längst schon
ausbuchstabiert haben?

Andererseits liegt hier die Legitimation und Motivation dessen, was wir als Kirchenasylbewegung tun: Es sind ja nicht die heiligen Räumen. Es ist auch nicht ein bedrohtes Privileg der Kirche, das diese besonders ängstlich hüten müsste. Im Kern entsteht die Kraft zum Kirchenasyl aus der Bindung unseres Gewissens als einer Gruppe von Menschen, die von dem Flüchtlingskind Jesus angesprochen, berührt und sich für ihr eigenes Leben verpflichtet wissen.

Predigt über Matthäus 15,21-28

Empathie ist nur ein Wort. Das ist eine bittere, im Kirchenasyl immer gegenwärtige Erfahrung. Manchmal kann eine:n das verrückt machen. Theoretisch gehen die Gesprächspartner:innen bei unserer Suche nach Zufluchtsorten eigentlich alles mit. Ja, es sind wirklich schlimme Zustände in Bulgarien oder an der Grenze in Polen oder in den Lagern in Griechenland. Ja, wir haben auch die Reportagen gesehen. Und ja, es ist nicht in Ordnung, dass sich die Bundesrepublik mit den Dublin-Regeln einen so schlanken Fuß macht. Bis heute. Und dass der Preis, das zu ändern, nun tatsächlich Lager außerhalb der europäischen Grenzen sein sollen. Europa eine Festung. Wir sprechen mit sehr vernünftigen, verständnisvollen Leuten. Sie finden so vieles auch nicht in Ordnung.

„Abschieben im großen Stil“ - nein, sowas kann man eigentlich nicht sagen - und schon gar nicht umsetzen. Aber dann ist es irgendwie zu Ende. Die beengten Verhältnisse in der Gemeinde. Dass andere das kritisch sehen. Dass dafür gerade keine Zeit ist. Empathie ist nur ein Wort. Rückübersetzt kommt „L’empathie n’est qu’un mot“ heraus. Da ist das schöne französische Wort „Verbe“ weg: Mot statt Verbe – was soll noch passieren.

Das kann doch nicht sein. Darum hat mich diese Überschrift auf meiner Googlesuche so angefixt: L’empathie est‘un verbe – ist eine Aktion, ist ein Tuwort, und das Tun, das dazu gehört kann man auch lernen: Darum: trois idées clés pour cultive l’empathie.

 

Ich kann nicht wirklich französisch, das habt ihr inzwischen gemerkt. Und darum habe ich den entsprechenden Kurs im Neuen Testament gesucht und dort auch gefunden: In einer
letztlich unglaublichen Geschichte: Unglaublich ist sie wegen ihres Ausgangspunktes: Jesus selbst steht auf der anderen Seite: Empathie – Fehlanzeige: Aber jetzt hört selbst, - noch einmal neu: Empathie – einfach ein Wort? L’empathie un verbe! – Eine Aktion!

„Jesus ging danach von dort weg und zog sich ins Gebiet von Tyrus und Sidon zurück. Und seht, eine kanaanäische Frau aus jener Gegend kam herbei und schrie: »Nimm dich meiner an, auf dich höre ich! Bist du doch Nachkomme Davids. Eine schlimme und unheimliche Krankheit hat meine Tochter gepackt.« Jesus antwortete ihr mit keinem Wort. Seine Jüngerinnen und Jünger kamen dazu und baten ihn: »Befreie sie davon, denn sie schreit hinter uns her.« Er widersprach: »Ich bin nur zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel gesandt.« Sie aber kam, fiel vor ihm nieder und sagte: »Ich höre auf dich, hilf mir.« Er antwortete: »Es ist nicht gut, den Kindern das Brot zu nehmen und es den Hunden hinzuwerfen.« Und sie entgegnete: »Ja, doch ich gehöre dir und die Hunde fressen von den Krümeln, die vom Tisch der Menschen fallen, denen sie gehören.« Da antwortete Jesus und sagte zu ihr: »Frau, dein Vertrauen ist groß. Es geschehe dir, wie du willst.« Und ihre Tochter war von diesem Augenblick an geheilt."

Liebe Engagierte,
Jesus, seine Freund:innen und diese kanaanäische Frau, - sie leben schlicht in verschiedenen Welten. Voneinander abgeschlossen. Es ist nicht so, dass man nichts übereinander wüsste. Vielleicht waren sie wechselseitig auch schon ausdrücklich Gesprächsthema, Jesus unterwegs in den syrophönizischen Städten. Das ist faszinierend an alten Ikonen, die noch nicht mit Perspektiven und anderen bildnerischen Raffinessen arbeiten, aber das bringt die Ikone auf den Punkt: Größer geht der Abstand nicht Zu vielen Menschen haben andere Menschen großen Abstand. Obwohl wir dieselbe Luft atmen, leben wir in verschiedenen Welten. Dann gibt es keine Empathie. Dann ist das ein Wort, eine leere Hülse, Teil eines naiv positiven Selbstbildes. Natürlich sind wir empathische Menschen.

Nach dem 7. Oktober vor einem Jahr war die Klage allgegenwärtig: Da ist keine Empathie. Gemessen an dem, was da einer so großen, diversen Menge von Menschen an vielen Orten rund um den Gaza an Grausamkeit angetan wurde, war das beschämend. Der Anspruch ist natürlich ein anderer. Aber ohne Kontakt gibt es keine Empathie. Auch nicht in den Monaten danach sozusagen umgekehrt: Gegenüber den Mitbürger:innen mit palästinensischen Wurzeln, die täglich vom Schrecken in Gaza und im Westjordanland hörten. Kein Kontakt, - keine Empathie. Denn Empathie ist nicht abstrakt. Es ist darum auch sinnfrei, sie moralisch einzufordern, ohne in den Kontakt zu gehen. Darum: „La première idée clé“: Den Abstand überwinden.

Das scheint einfach und eigentlich banal: Die Frau läuft ihnen hinterher. Aber über den Abstand reichen nicht allein ihr schneller Schritt und ihre Hand, sondern ein Schrei und eine Idee: etwas Verbindendes, das wechselseitig gilt. „Bist du doch Nachkomme Davids!“ Eine Bewohnerin aus den Hafenstädte Tyros und Sidon, den libanesischen Städten die jetzt gerade unter dem Beschuss von Hisbollah und israelischer Armee so furchtbar in Mitleidenschaft gezogen werden. Wir spüren die Spannung, den Abstand unmittelbar. Da ist keine Brücke. Aber die Frau fleht und schreit um Hilfe wie eine jüdische Frau und nennt Jesus einen Daviden.

Aber er schweigt, scheint ganz unberührt. Auch das kennen wir. Wie irritierend, wenn Menschen mit dem Konzept von Solidarität und Empathie unterwegs sind: Da gibt es keine Antwort auf Mails, der so dringend erbetene Rückruf bleibt einfach aus. Es ist, als hätte es den Hilferuf nicht gegeben. Natürlich kann man dann andere einschalten. Die Superintendentin, einen Bekannten in der Region, der vielleicht einen Weg weisen könnte. Die wissen, was sich gehört und wollen ganz sicher, dass sich das Anliegen sauber abwickeln lässt. „Mach doch eben, was sie will.“ Aber es funktioniert nicht. Die eigentlich wichtigen Dinge funktionieren so nicht. Mach mal eben. Wenn’s um Existenzielles geht, hilft es nicht, wenn das Herz nicht dabei ist. Solange ein Mensch nicht im Inneren berührt ist, wird er sich nicht bewegen.

Stattdessen folgt nun eine beachtliche Erklärung der Nichtzuständigkeit: „Ich bin nur zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel gesandt.“ Was soll daran nicht legitim sein? Das
ist weit mehr als das Schweigen oder ein Schild an der Tür: Kann ich auch nichts machen. Die erste Idee hat schon gewirkt. Der Abstand steht schon in Frage: „Ich kann mich nicht um Dich kümmern, weil ich mich um so viele andere kümmern muss.“ Die zwei Welten fallen schon in eins. Aber reichen ihre Ressourcen aus? Die Syrophönizierin ist jetzt unerschrocken: Ich höre dich. Ich höre dein Argument: Aber hilf mir trotzdem! Denn du kannst das.

Zweite Schlüsselidee: Unbedingt daran festhalten, dass der:die andere zur Empathie fähig ist. Dass es keinen Grund gibt, nicht empathisch zu sein. Es gibt wohl endlos viele Begründungen, aber letztlich keinen einzigen Grund: Ich höre Dich, aber Du kannst das trotzdem. Ob wir an diesem Punkt selbst zu kleingläubig sind? Zu zögerlich? Dass wir die Begründungen hinnehmen und aufhören, in den Ohren zu liegen. Und das bedeutet ja, sich abfinden. Unweigerlich. Das so hinnehmen, wie auf der Ikone: Da sind sie und da sind wir. Und wenn es einmal eine Not umgekehrt gibt, dass sie uns brauchen: Werden sie dann auch so schnell aufgeben?

Schlüsselidee zwei: Unbedingt dran bleiben. Klar, die Ressourcenfrage müssen wir klären, möglichst befriedigend klären, dass alle damit gut leben können. Aber mit diesem Text im Rücken lässt sie sich auch klären.

Doch bevor es besser wird, wird’s schlimmer. Es hört sich schlimm an, was jetzt kommt. Und es ist auch schlimm. Aber es ist heilsam, einen solchen brutalen, letztlich rassistischen Satz aus dem Mund von einem zu hören, der über jeden Zweifel erhaben schien. Dann müssen wir vielleicht nicht gar so entsetzt reagieren, wenn unsereinem in dunklen Momenten so etwas über die Lippen kommt: „Es ist nicht gut, den Kindern das Brot zu nehmen und es den Hunden hinzuwerfen.“

Wahnsinn, was mit uns Menschen geschieht, wenn wir meinen, dass es zu knapp für alle sei. Wie die Entsolidarisierung grassiert. Wie rassistische Muster salonfähig werden: Bett, Brot, Seife! – Das genügt. Das andere ist für die „Kinder“, die eigentlichen Bürger:innen. Gott sei Dank, ist das nicht zwangsläufig so. Es ist sehr beeindruckend zu sehen, was in echter Not an Solidarität zwischen einander völlig fremden Menschen möglich ist. Aber wenn die Ungleichheit wächst und der Glaubenssatz von den knappen Ressourcen im Raum steht, solange die Tische voll gedeckt sind: „Das werdet Ihr doch verstehen. Wenn alle kämen.“

Es ist ein Glaubenssatz, der seine Wirkung genau solange entfaltet, solange niemand die Probe drauf macht. Es ist eine Theorie, eine abstrakte Überlegung: Wenn da alle was wollten. Wenn da alle das wollten, was wir wollen. In einer endlichen Welt scheint das Argument unschlagbar. Nicht alles reicht für alle. Aber das hat ja auch gar niemand gewollt. Das wäre absurd. Wie beim Klima: Immer so weitermachen und die Grenzen nicht achten.

Um so irritierender ist, dass es oft dieselben sind, die hier die Grenzen der Solidarität schon sehen, während sie sie im Blick auf die Ökologie unserer Welt leichtfertig ignorieren. Darum jetzt schnell der dritte Satz: idées clé pour cultive l’empathie. (Bilder der Fülle in der einen Welt): „Ja, doch ich gehöre zu dir, und auch als Hunde können wir leben, weil die Kinder so gern krümeln, und der Tisch wahrhaftig voll genug ist.“ Das ist in vielfacher Hinsicht stark: Auch wenn Du mich sonst wie klassifizierst: Ich gehöre zu Dir. Seit du mein Anliegen kennst, bin ich Teil Deiner Geschichte. Du kannst mich verjagen, aber los wirst Du mich nicht mehr. Das klingt auf den ersten Moment drohend, aber eigentlich ist es Evangelium pur: Mit jeder:mit jedem, die:der Menschenantlitz trägt, ist eine solche Verbindung möglich. Prinzipiell. Und auch wenn es um sehr praktische Schlüsselideen geht, dahinter steht ein Ringen um Prinzipien, um unsere Sicht auf die Welt, um den Glauben selbst: Es ist genug – Gottes Schöpfung für uns, und für alle gibt es eine Geschichte, in der sie sich am Ende gemeinsam finden. „Frau, dein Vertrauen ist groß. Es geschehe Dir, wie du willst.“

Drei Schlüsselideen, damit Empathie stattfindet. Wir brauchen dafür keinen politischen Einfluss, keine Marketingkampagne, keine neuen Mehrheiten. Drei Schritte, drei Ideen, die uns eine kanaanäische Frau lehrt: über den Abstand hinweggehen, drauf zu; - sich nicht abwimmeln lassen; unbeirrt dran bleiben. Da ist es auch gut, die Entgleisungen zu kenne die dann regelmäßig folgen, um den alten Abstand wieder herzustellen: Messerstecher, Silvester auf der Domplatte, alle wollen ja eigentlich an die Sozialtröge in Deutschland...

Dann halten wir unbedingt daran fest: Unsere Geschichte ist schon verwoben: Wenn wir jetzt brutal werden, verändert uns das selbst. Darum müssen wir diese Bilder von der Fülle finden. Zum Beispiel dass sehr viele Flüchtlinge gar keine Unterkunft bräuchten, wenn sie zu ihren Familien und Freund:innen dürften. Dass die Steuern und Sozialbeiträge einer Pflegehilfskraft in 10 Jahre fast 100 T€ ausmachen können. Einem Kollegen hat mal ein Landrat verzweifelt vorgerechnet, was eine fünfköpfige Flüchtlingsfamilie durch die Asylbewerberleistungen kostet. Er kam großzügig gerechnet auf 45 T€. Der Kollege war schlagfertig genug, um anzumerken, dass aber doch die Gehälter im Kreisamt nicht wirklich bedroht seien und sogar noch das Gehalt für einen Landrats von etwa 150 T€ AG-brutto übrig bliebe. Bilder der realen Fülle gegen das Alltagsmantra, dass es nun nicht mehr reichen könnte.

Empathie ist ein Verb und ist keine passive Eigenschaft. Im Gegenteil: Trois idées: Drauf zu gehen und schreien – dranbleiben – Bilder der Fülle finden. Das 15. Kapitel des Matthäusevangeliums endet mit der Geschichte von der Speisung der 4.000 auf der Grundlage von nur sieben Fischen. Warum wird die Geschichte gerade hier wiederholt, obwohl Jesus ein Kapitel davor sogar schon 5.000 satt werden ließ? Weil sich Jesus und die frühe Kirche wirklich korrigiert haben: Es gibt keine Grenze der Empathie. 4.000 das sind 1.000 aus allen vier Himmelsrichtungen: das ist die ganze von Gott geliebte Menschheit. Und genährt wird sie mit sieben Fischen: Alles was an den sieben Tagen der Woche heranwächst und uns gemeinsam leben und überleben lässt. L’empathie est un’verbe! Amen.

Hans-Peter Daub

Vorstand Dachstiftung Diakonie
Hauptstraße 51
38518 Gifhorn
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